„Sinnlose Gebilde“: ein Fund in Joseph Roths „Kapuzinergruft“

Zufällig bin ich auf diese Stelle in Joseph Roths Roman Die Kapuzinergruft gestoßen. Sie findet sich ganz am Anfang:

Die Menschen können nicht allein bleiben. Sie schließen sich in sinnlosen Gruppen zusammen, und die Dörfer können auch nicht allein bleiben. Sinnlose Gebilde entstehen also.

„Sinnlose Gebilde entstehen also“ – wer denkt da nicht an die sog. „Gebietsreform“ der 70er Jahre? Die SPD vor allem, „fortschrittlich“ und geschichtsvergessen, wie sie schon damals war, zu den dümmsten „Reformen“ immer bereit, sorgte in einem Akt der Barbarei dafür, daß mit einem Kahlschlag ohnegleichen die meisten Gemeinden von der Landkarte verschwanden.

Man gab ein paar finanzielle Anreize und drohte ansonsten mit obrigkeitlichem Zwang: so entstanden im Namen einer „modernen Verwaltung“ künstliche Großgemeinden mit Phantasienamen, und die meisten Dörfer, auch wenn sie in ihrer Geschichte auf viele Jahrhunderte zurückblicken konnten, wurden mit einem Federstrich zusammengelegt oder eingemeindet. Uralte Dorf- und Gemarkungsnamen wurden so ausgelöscht – und „bürgernah“ war das alles auch nicht, im Gegenteil. Das Bürgermeisteramt befand sich mit einem Mal in weit entfernten Ortsteilen – bei den immer schlechteren Bedingungen im öffentlichen Nahverkehr gerade für ältere Menschen bis heute ein Ärgernis.

Damit man einmal die Dimension dieses Kahlschlags sieht: allein in Hessen hat sich die Zahl der selbständigen Gemeinden von 2.642 im Jahr 1969 auf heute 421 verringert. Nur ganz wenige Zwangsvereinigungen konnten verhindert werden, wie etwa der praktisch von der gesamten Bevölkerung abgelehnte Zusammenschluß der Städte Wetzlar und Gießen zum Kunstgebilde „Stadt Lahn“.

Angeblich sollten mit der Gebietsreform die Verwaltung vereinfacht und Kosten eingespart  werden. Ich habe nie erfahren, ob das wirklich zutrifft. Aber eines weiß ich: der Mensch braucht zu seiner Zufriedenheit kleine, überschaubare Einheiten. Es hat zum Beispiel im alten Kreis Wetzlar Dörfer gegeben, die nur 80 oder 90 Einwohner hatten. Glaubt denn jemand im Ernst, daß sich diese Menschen wohler gefühlt haben, als man ihre Gemeinde zum „Ortsteil“ eines künstlichen Verbandes von fünf oder neun Dörfern gemacht hat? Genauso ist es mit den Schulen. Ich weiß noch, wie man in den 70er Jahren über die kleinen bayerischen „Zwergschulen“ gelacht hat. Im traditionell sozialdemokratischen Hessen war man natürlich viel fortschrittlicher und hat immer größere Schulkomplexe gebaut (Gesamtschulen vor allem), ohne auch nur für einen Moment zu überlegen, ob diese Gigantomanie für die pädagogische Arbeit gedeihlich ist.

Big is beautiful – das ist auch heute noch die Devise aller fortschrittlichen Menschen. Deshalb schaffen sie immer größere Verwaltungseinheiten, deshalb möchten sie am liebsten Bundesländer zusammenlegen, und auch die EU soll immer größer werden. Aber der Mensch ist dafür nicht geschaffen: er hat von Anfang an immer am liebsten in Kleingruppen gelebt (das hat der bekannte Ethnologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt schön herausgearbeitet). Wer die Menschen in immer größere, anonyme Einheiten zwingt, tut ihnen also nichts Gutes.

So entstehen nur „sinnlose Gebilde“, gegen die der Mensch irgendwann rebelliert.

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