„Wenig ist widerwärtiger als Buhrufe“, schreibt – in schlechtem Deutsch – Sibylle Berg im Spiegel (hier nachzulesen). Am Ende einer Aufführung, die alle Teilnehmer mit viel Herzblut geschaffen hätten, stehe „die Verhöhnung durch das Publikum“. Man weiß nicht so recht, worauf sie sich genau bezieht, davon redet sie nicht, also ist es wohl allgemein und pauschal gemeint.
Frau Berg, die selbst Dramatikerin ist, malt eine Art Genrebild, das unser Herz anrühren will:
War es eine kleine Produktion, haben 20 Menschen zwei Monate an dieser Inszenierung gearbeitet, oft sind es 50. Die meisten sieht man nicht, sie sind in der Technik, im Bühnenbau, in der Tonabteilung, in der Schneiderei. Die Requisite fieberte an diesem Abend genauso mit wie die Maskenabteilung. Zwei Monate Angst, Spaß, Verwirrung und harte Arbeit.
Ja, und was will uns Frau Berg damit sagen? Daß wir schon deshalb, weil harte Arbeit vorhergegangen ist, zum Applaus verpflichtet sind? Sollen wir auch bei schlechten Inszenierungen applaudieren (und das sind dank des staatlich subventionierten Regietheaters die meisten)? Sollen wir uns freuen, wenn uns pubertäre Regisseure, die mit 50 oder 60 Jahren noch immer pubertieren,mit Kot, Blut und Sperma „provozieren“ wollen – und das immer wieder, und von Jahr zu Jahr mehr? Sollen wir applaudieren, wenn auf der Bühne immer und immer wieder die alten Griechen in den Stücken von Sophokles, Euripides und Aischylos auf der Bühne in T-Shirts oder Nadelstreifen herumlaufen?
Mein Gott, wie provozierend! Und wie originell!
Nein, ein lebendiges Theater hat zu allen Zeiten, und gerade dann, wenn es am lebendigsten und vitalsten war, von den heftigen (und natürlich nicht immer gerechten!) Reaktionen des Publikums gelebt. Lachen und Toben, Bravo- und Buhrufe – das alles gehört zum echten, authentischen Theater. Erst da, wo es zum reinen Bildungstheater erstarrt ist, steht am Ende der obligatorische und höfliche Applaus. Ist der denn so erstrebenswert für die Schauspieler? Wirklich nicht. Wer mit Herzblut Theater spielt, will doch nicht diesen in Deutschland üblichen Pflichtapplaus, der am Ende bloß der Form halber und ohne innere Beteiligung gespendet wird. Man will Emotionen beim Publikum sehen, und da ist ein Buhen, das aus dem Herzen kommt, allemal erfreulicher als der förmliche Applaus der Zuschauer, bevor sie ins Parkhaus eilen. Frau Berg freilich dramatisiert dieses von alters her übliche Wechselspiel von Schauspielern und Zuschauern auf eine unerhörte Weise:
Mir stellt sich die Frage, ob Menschen, die sich bei Premieren so entäußern, wissen, was sie da tun. Gibt ihnen der Erwerb einer Eintrittskarte wirklich das Recht, Künstler zu traumatisieren? Ich habe von Sängern gehört, die ihre Laufbahn wegen Buhrufern beenden mussten. Regisseure, die zu trinken begannen.
Ach, liebe Frau Berg, ich habe von Schauspielern gehört, die nicht vom Publikum, sondern von ihren Regisseuren traumatisiert worden sind. Die nicht etwa zu trinken beginnen, weil am Ende ein paar Buhrufe kommen, sondern weil sie es nicht mehr ertragen, ihre schauspielerischen Fähigkeiten in plumpen, oberflächlichen, den Verstand beschämenden Inszenierungen zu vergeuden. Sehen Sie sich doch einmal die Lumpazivagabundus-Aufführung bei den Salzburger Festspielen an. Gerhard Stadelmaier hat sie gestern in der F.A.Z. in seiner unnachahmlichen Art beschrieben (hier nachzulesen). Natürlich ist der böse Geist Lumpazivagabundus nackt (ohne Nacktheit läuft nun einmal gar nichts im heutigen Theater!), und natürlich ist er „mit Sperma und Blut besudelt“. Aber Moment! – ich merke eben, daß der Urin fehlt! Hat ihn der Herr Regisseur vergessen? Oder hat Stadelmaier ihn nicht bemerkt? Jedenfalls wird ein Theaterstück erst künstlerisch bedeutend, wenn alle drei Körpersäfte, also Blut, Urin und Sperma, vorhanden sind. Damit kann der Herr Regisseur nämlich zeigen, wie vital seine Inszenierung ist – und wie provozierend!
In einem aber, Frau Berg, gebe ich Ihnen recht: wir sollten nicht brav im Saal sitzenbleiben und erst nach zwei oder drei Stunden buhen.
Nein, wir sollten bei diesen staatlich subventionierten Körpersaftorgien einfach aufstehen und gehen. Oder – noch besser – solche Theater meiden wie die Pest, denn irgendwann (ich weiß nicht, ob ich es noch erleben werde) wird man an solche Inszenierungen zurückdenken wie an einen peinlichen Traum.
Das Publikum verhöhnt die Schauspieler nicht, Frau Berg, das ist eine böswillige Unterstellung, und schon gar nicht verhöhnt es die vielen fleißigen Helfer hinter den Kulissen. Nein, es ist umgekehrt: das Publikum selbst wird von den Regisseuren mit ihren unsäglichen Inszenierungen verhöhnt.
Es ist höchste Zeit, daß es sich dagegen wehrt!