Den Namen Gabor Steingart habe ich heute zum ersten Mal gehört. Ja, ich hätte ihn kennen können, er war immerhin lange Zeit Redakteur beim Spiegel und danach Chefredakteur und Herausgeber des Handelsblatts. Aber erst jetzt ist er mir durch einen Kommentar im Focus aufgefallen, in dem er von einem bevorstehenden „Putsch“ bei SPD und FDP – „ein Machtwechsel naht“ – schwadroniert (hier nachzulesen).
Besonders fällt freilich seine feine Durchdringung der Weltgeschichte auf:
Ohne das Woodstock-Festival von 1969 und die 68er-Studentenrevolte wären SPD und Grüne niemals an die Macht gekommen. Studentenführer Rudi Dutschke, Friedenssängerin Joan Baez und die linke Publizistin (und spätere Terroristin) Ulrike Meinhof waren die Vorgruppe einer Veränderung, die in Deutschland den CDU-Staat beendete und erst Willy Brandt, später dann den früheren Steinewerfer Joschka Fischer, den RAF-Anwalt Otto Schily und den Kommunisten Winfried Kretschmann, heute Ministerpräsident von Baden-Württemberg, nach oben spülte.
Besonders verwerflich:
Im Radio wurde nicht mehr Heinos „Schwarzbraun ist die Haselnuss“ gespielt, sondern „Give Peace a Chance“ von John Lennon und Yoko Ono.
Mit einer so schlichten Welterklärung in Schwarz-Weiß kann ich natürlich nicht konkurrieren, auch auf so prägnante Charakterisierungen wie „Friedenssängerin“, „Steinewerfer“, „linke Publizistin“, „Studentenführer“ oder „RAF-Anwalt“ wäre ich nicht nicht gekommen. Ich habe nur einen einzigen kleinen Vorteil gegenüber Gabor Steingart: ich war Zeitzeuge.
Als Steingart auf die Welt kam, hatte Joan Baez, wenn ich mich richtig erinnere, schon ihr drittes Album veröffentlicht – und der damals 87jährige Konrad Adenauer war immer noch Bundeskanzler und wollte nicht weichen.
Als einer, der in den Sechziger Jahren erwachsen geworden ist, habe ich dieses Jahrzehnt damals uneingeschränkt als eine Zeit der Befreiung empfunden. Da wurden Fenster aufgestoßen, und frische Luft kam herein! Es war eine Zeit des Aufbruchs auf fast allen Gebieten des menschlichen Lebens, und ich bin heute noch dankbar dafür, daß ich dieses Age of Aquarius erlebt habe – allein schon wegen der Musik. Nie zuvor und erst recht nicht danach hat es eine populäre Musik, besonders im Folk, gegeben, die so kreativ, so aufregend und so unkommerziell war. Und manche Frau, die heute womöglich von der Adenauerzeit schwärmt, sollte wissen, daß damals allein der Ehemann darüber entschied, ob seine Frau verhüten oder eine Arbeit annehmen durfte, ganz zu schweigen davon, daß sie rechtlich (!) verpflichtet war, ihren „ehelichen Pflichten“ nachzukommen. Natürlich hatte es im Laufe der Zeit auch Fehlentwicklungen gegeben, und vieles, wovon man damals begeistert war, etwa die vielen Sex- und Aufklärungsfilmchen, wirkt heute unfreiwillig komisch.
Aber daß heute, meist aus ideologischen Gründen, die 60er Jahre als „der Anfang vom Ende Deutschlands“ herhalten sollen, daß hin und wieder gar der gesamte Niedergang unseres Landes auf dieses Jahrzehnt zurückgeführt wird, ist – mit Verlaub – Quatsch.
Im Gegenteil: es war damals eine Zeit, in der die meisten Menschen voller Energie und Optimismus ein neues Leben begannen. Es wäre schön, wenn die heutige junge Generation, die eher von Pessimismus, wenn nicht gar von Endzeitvisionen („die letzte Generation“) getragen wird, wenigstens ein bißchen vom damaligen iuvat vivere geerbt hätte.