Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm kann man stundenlang schmökern. Das geht ganz gut auf der Seite von woerterbuchnetz.de, aber noch schöner ist es natürlich, wenn man das vielbändige Werk auf der Festplatte hat. Ich habe mir die CD-ROM „Der digitale Grimm“ vor ungefähr 15 Jahren bei Zweitausendeins gekauft, und immer wenn ich die bunte, flirrende (und oft unerträglich dumme) Welt des Internets leid bin, verbringe ich zur Erholung einige Zeit bei den Brüdern Grimm.
Vor ein paar Tagen ist mir in einem alten lateinischen Wörterbuch (Adam Friedrich Kirsch, Cornucopiae linguae Latinae, Nürnberg 1731) das schöne Wort „windwirblicht“ (als Übersetzung für das lateinische typhonicus) aufgefallen. So ungefähr läßt sich denken, was damit gemeint ist, wenn wir heute auch nicht mehr von „Windwirbel“, sondern von „Wirbelwind“ sprechen. Kirsch definiert übrigens das lateinische typho, von dem das Adjektiv typhonicus abgeleitet ist, als „eine Windsbraut, ein Windwirbel“. Was für schöne alte Wörter!
Kleiner Exkurs. Man lege einmal einem heutigen Abiturienten oder einem Germanistikstudenten das Wort „Windsbraut“ vor und frage nach dessen Bedeutung. Dabei ist dieses Wort zwar im 18. Jahrhundert etwas aus der Mode gekommen, kommt aber seit der Goethezeit zunehmend wieder in Gebrauch. Man findet es z.B. in Hebels Schatzkästlein:
Zu gleicher Zeit kam ein heftiger Wirbelwind oder eine sogenannte Windsbraut, riß den meisten die Hüte von den Köpfen, wirbelte sie in die Höhe über den Berg hinüber, und ließ sie auf der andern Seite wieder fallen.
Auch bei Goethe und den großen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts wie der Droste, Eichendorff, Heine, E.T.A. Hoffmann, Jean Paul, Gottfried Keller und Raabe kommt das Wort vor – und sogar noch in einem Gedicht von Trakl im Jahr 1914.
Aber eine solche Sprache – so lange Sätze! so komische Wörter! – zieht sich heute kein Schüler mehr rein. Für sie sind (Achtung, eine leichte Übertreibung!) sogar noch die Werke von Borchert bis Böll und Grass so fremd und unverständlich wie es in meiner Zeit das Hildebrandslied war. Aber ich will auch nicht rechten. Ich hatte wie meine Mitschüler das Glück, in einer Zeit zur Schule zu gehen, als es noch selbstverständlich war, daß man am Ende der Gymnasialzeit nicht nur die Grundzüge der Geschichte kannte, sondern auch die deutsche Literatur von der althochdeutschen Zeit bis in die Gegenwart hinein. Jeder hat selbst lesen müssen, niemand konnte sich im Internet fremdes (und oft haarsträubend dummes und immer wieder von anderen abgeschriebenes) Wissen erschwindeln. Man mußte in die Stadtbücherei gehen, in Bibliotheken suchen, und sich – hört, Kinder! – selbständig Gedanken machen. Für mich war das immer ein beglückendes Erlebnis, man nennt es den „hermeneutischen Zirkel“: erst einmal den literarischen Text völlig vorurteilsfrei lesen, dann die Fachliteratur heranziehen, dann den Text, nun wissender, erneut lesen – und am Ende des Zirkels (man könnte auch von einer Spirale sprechen) zu einem eigenen Urteil kommen.
Das Vegnügen an der Kultur muß in den Menschen freilich erst eingepflanzt werden. Dazu braucht es Geduld – und einen Deutschlehrer, der mit seiner eigenen Begeisterung die Schüler anstecken kann. Diese Gabe hat nicht jeder. Mein Deutschlehrer freilich, Edgar Hobinka, war so ein Glücksfall: er hat nicht nur die Musikschule unseres Städtchens gegründet und ein Vierteljahrhundert geleitet, er war auch ein wunderbarer Lehrer – einer von denen, die man nicht vergißt. Zurecht ist heute eine Straße nach ihm benannt.