Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.
Lieben und Hassen … hat seine Zeit.
Der Prediger Salomo (Kohelet), 3, 1 und 8.
Ich bin im Zeitalter des Wassermanns erwachsen geworden – Age of Aquarius hieß das in den 60er Jahren, und es war eine Zeit des Aufbruchs, der Befreiung von Überkommenem auf fast allen Gebieten des Geistes, der Politik, der Musik und – vor allem! – des Alltags. Auch wenn heute manches im Rückblick unfreiwillig komisch wirkt, auch wenn mir anderes, etwa der linke Terror, bis in die Gegenwart so widerwärtig ist, daß ich selbst heute noch keinen Film, keinen Artikel darüber ertrage, und auch wenn vieles – etwa das an sich schöne Motto make love, not war – heute auf uns naiv wirken mag: es war doch eine Zeit, in der nach den Verkrustungen der sog. „Adenauerzeit“ auf einmal alles möglich schien.
If you’re going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair.
Es waren Zeiten, auch das muß man der heutigen Generation einmal sagen, in denen auf einmal alles möglich schien: buchstäblich alles, eine ganz neue, friedliche Welt, ein ganz neues Lebensgefühl, peace and love – und eine Musik, neben der die heutige so klein und kommerziell und armselig wirkt, daß man sich schämen möchte.
Und heute?
Wenn es heute ein Schlüsselwort gibt, das die Gegenwart in einem einzigen Begriff zusammenfaßt, dann ist es der Haß. Wenn alles seine Stunde hat, dann ist heute nicht die Stunde des Liebens, sondern des Hassens.
Wie aus dem Nichts ist dieser Haß entstanden, ohne jeden vernünftigen Grund, aber er ist scheinbar nicht aufzuhalten. Aus allen Poren im Internet strömt er, aus häßlichen Aufläufen in Dresden und anderswo, er quillt aus Kommentaren über unsere Politiker und Parlamente und aus neugegründeten Parteien überall auf der Welt, die nur von ihm leben.
Der Haß ist ubiquitär.
Gäbe es ihn auch ohne das Internet? Ich glaube nicht. Jedenfalls nicht so brutal, nicht so dumpf und vulgär.
Es mag ja sein, daß mancher in der Anfangszeit des Internets noch an ein durch und durch demokratisches (vielleicht auch anarchisches) Medium geglaubt hat. Aber diese Zeiten sind lange vorbei. Das Internet ist heute ein Kommunikationskanal für den Kommerz, aber auch für Verbrecher jeder Couleur, für Diktatoren, für alte und neue Nazis, für Wutbürger – und vor allem für den Pöbel, der dort (gut versteckt hinter der Anonymität des Netzes) seine niedersten Instinkte ausleben kann, ohne eine Behelligung durch strafrechtliche Folgen befürchten zu müssen. Wer erfahren will, was der Mensch wirklich ist, der Mensch nämlich, wenn er frei ist wie ein Vogel, wenn ihm kein Richter droht und kein Polizist, der sollte einmal die Foren des Internets besuchen. Der alte Satz, daß die Kultur der Menschheit nur wie eine hauchdünne Schicht über dem barbarischen Kern liege, findet sich tausendfach verifiziert. Schopenhauer hat einmal sinngemäß gesagt (ich kann die Stelle im Moment leider nicht finden), man solle nur einmal für einen Tag alle Gesetze außer Kraft setzen, dann werde man schon merken, wie es um die „angeborene Moral“ des Menschen bestellt sei.
Der Haß breitet sich vor allem über das Internet aus. Das liegt auch daran, daß fast alle großen Zeitungen viel zu lange eine Kommentierung ihrer Artikel zugelassen haben – im guten Glauben, daß es dabei, wie in einer Bürgergesellschaft üblich, vernünftig und gesittet zugehen würde. Als die Mehrzahl der „Kommentare“ nur noch Haßtiraden waren, hätte man die Kommentarfunktion sofort abschalten müssen, aber daß die von maßlosem Haß erfüllten „User“ dies als Zensur bezeichnen würden, hat wohl manche Zeitung davon abgehalten.
Der „User“ ist freilich alles andere als ein mündiger Staatsbürger. Er ist, wenn man einmal die Mehrzahl der Kommentare betrachtet, die er im Internet hinterläßt, ein geistig recht bescheiden ausgestatteter, großmäuliger, vom Haß getriebener Mensch, der obendrein nicht einen einzigen deutschen Satz fehlerfrei formulieren kann (was seinem Eintreten für das „deutsche Vaterland“ eine besonders pikante Note gibt).
Nein, dieser Sumpf schadet Deutschland nicht nur, er trägt das Vertrauen wieder ab, das wir uns seit der Wiedervereinigung (und erst recht seit dem fröhlichen Sommermärchen von 2006) in der ganzen Welt erworben haben.
Da ist es nur wenig tröstlich, daß der Haß auch in anderen Ländern auf dem Vormarsch ist. Der einzige Trost ist, daß auch diese häßliche Zeit irgendwann vorbei sein wird.