Ich habe gerade mit großem Interesse gelesen, was Du in einer Bürgersprechstunde geäußert hast. Mir ist es dabei, wenn Du erlaubst, heiß und kalt den Rücken heruntergelaufen. Ich habe Dich nämlich bisher für einen autoritären und ziemlich undemokratischen, selbstherrlichen Politiker gehalten. Das bist Du auch. Aber daß Du das Faustrecht wieder in die internationale Politik eingeführt hast und öffentlich dazu stehst, das ist schon ein starkes Stück. Damit, lieber Wladimir Wladimirowitsch, sinkst Du auf das Niveau jener kleinen Diktatoren, wie man sie zuhauf in der Dritten Welt vorfindet.
Du findest es legitim, daß Du Deine Soldaten auch in die Ost-Ukraine marschieren läßt, sagst Du. Dein Föderationsrat habe Dir das erlaubt. Eine erstaunliche Feststellung! Ganz abgesehen davon, daß in Deinem „Parlament“ inzwischen nur noch Claqueure sitzen, die immerfort „Rossija, Rossija!“ oder „Wir lieben Dich, Wladimir Wladimirowitsch!“ rufen – also davon einmal ganz abgesehen: das wäre ja noch schöner, wenn ein Parlament seinen Wirkungsbereich so mir nix dir nix auf ein souveränes Nachbarland ausweiten dürfte!
Im übrigen, lieber Genosse Putin, verfolgen wir hier in Deutschland sehr genau, wie es bei Dir daheim zugeht: wie Du jetzt, nachdem Du fast alle kritischen Medien ausgeschaltet und die letzten Richter auf Linie gebracht hast, auch noch die wenigen übriggebliebenen Gegner vor Gericht oder an den Pranger stellst, um sie zu vernichten. Die F.A.Z. schildert Deinen Vernichtungsfeldzug in der heutigen Ausgabe anhand von vielen Beispielen (hier nachzulesen, als Lektüre sehr zu empfehlen!). Da erfährt man, daß jeder, der sich offen gegen Deinen abenteuerlichen Kurs stellt, als „Vaterlandsverräter“ oder „Verbrecher“ und als „Feind des Volkes“ beschimpft wird. Das Internet, das Du ja ansonsten gar nicht so liebst, eignet sich vortrefflich dazu, Deine Gegner an den Pranger zu stellen.
Ach, eins will ich Dir noch sagen, Wladimir Wladimirowitsch: alles, was Du im Moment machst, zeigt, daß Du kein starker, selbstbewußter Politiker bist, sondern ein schwacher, ein sehr schwacher. Du kannst das eine Zeitlang mit Deinem tumben Rossija-Patriotismus überdecken, aber irgendwann werden Deine Landsleute merken, was Du angerichtet hast.
Und selbst wenn das noch lange dauert: auch Du wirst einmal, wie alle Staatenlenker, vor dem Richterstuhl der Geschichte stehen. Und dann wird man, wenn Gutes und Böses gewogen wird, sagen: dieser Putin hat sein Land, das so viele Entwicklungsmöglichkeiten hatte, für lange Zeit zurückgeworfen – zurück in die geistige Dumpfheit und Stagnation der Sowjetzeit.